30.01.2024 – Christian Spiertz
Gerade ist eine neue Folge von Jason Liesendahl erschienen in dem Podcast “Schöner Glauben”. Jason hat an der CVJM Hochschule in Kassel seine Masterarbeit zum Thema Dekonstruktion geschrieben mit der Frage: Nicht mehr evangelikal – Theoriebildung zu postevangelikaler
Theologie und Glaubenspraxis. Dabei interviewt Jason mehrere Menschen aus dem evangelikalen Spektrum, die etwas gemeinsam haben: Sie haben ihren Glauben auf den Prüfstand gestellt, ihn dabei aber nicht verloren. In seiner Arbeit stellt Jason seine Ergebnisse vor. Ich finde die Podcastfolge zu seiner Arbeit sehr spannend und wollte euch diese gerne verlinken.
https://schoener-glauben.blogs.julephosting.de/74-new-episode
Wie versteht Jason Dekonstruktion und was finde ich daran spannend?
“Dekonstruktion bezeichnet einen Bewältigungsprozess einer destabilisierenden Irritation oder Erschütterung von Beziehungsgefügen. Ziel des Bewältigungsprozesses ist die selbstermächtigende, systemoptimierende, restabilisierende Neukonfiguration von Beziehungsgefügen.”
– Jason Liesendahl, Nicht mehr evangelikal – Theoriebildung zu postevangelikaler Theologie und Glaubenspraxis, 2024.
Ehrlicherweise dachte ich immer Dekonstruktion ist sozusagen der Versuch Theologie aus den Angeln fundamentalistischer Glaubensvorstellungen zu heben und neu zu formulieren. Ich dachte immer, es ist eher ein kognitiver Prozess, der ausgelöst wird, wenn theologische Vorstellungen und die Beobachtungen in der Realität nicht zusammenpassen und der Versuch, eine Glättung herbeizuführen, unbefriedigend ist und man im Anschluss verschiedene Glaubenskonstruktionen neu überdenkt. Ein plastisches Beispiel kann der Diskurs über die Evolutionstheorie sein. Hat Gott die Welt in 6 Tagen geschaffen und am 7. geruht? Wie kann diese biblisch theologische Glaubensüberzeugung mit den Beobachtungen aus den Naturwissenschaften zusammenpassen. Der Glättungsversuch über 2. Petrus 3,8 (“8 Und ihr sollt wissen, liebe Freunde, dass ein Tag für den Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag.”) einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, ist mehr als unbefriedigend und klärt die eigentlichen Fragen nicht wirklich, sondern hat eher vertröstenden Charakter. Bisher dachte ich zumindest, dass Dekonstruktion eher auf der Ebene eines theologischen Diskurses stattfindet, wo Kirchen- und Gemeindebünde, Ortsgemeinden und deren Mitglieder sich um ein gemeinsames Verständnis von Bibelauslegung und Glaubensgestaltung und andere theologische Themen austauschen und um gemeinsame Antworten ringen.
Jason stellt aber fest, dass es viel mehr um die Erschütterungen auf der Beziehungsebene geht, und um die Frage, wie sich das Beziehungsgeflecht im wechselseitigen Verhältnis der eigenen Biografie, der Familie, Ehe, Freundeskreis, Gemeinde und deren Strukturen und dem jeweiligen Glaubenskontext stabilisieren lässt. Das heißt Dekonstruktion wird nicht durch ein rein theologisches Nachdenken angestoßen, sondern Irritationen in den Beziehungen von Menschen lösen die Suche nach tragfähigen Antworten aus mit dem Ziel tragfähige Beziehungen zu gestalten. Ich kann diese Sichtweise auf das Phänomen von Dekonstruktionsprozessen sehr gut nachvollziehen vor allem, wenn ich mir die Praxisbeispiel der Arbeit von Jason anschaue.
Ich habe mich gefragt, was uns als Gemeinde möglicherweise dabei hilft, dass Beziehungen innerhalb dieser Prozesse nicht abreißen, oder gar Verletzungen entstehen. Ich denke, dass an erste Stelle Toleranz, Verständnis und eine gehörige Portion Neugier, die nicht darauf aus ist, die eigenen Antworten dem anderen überzustülpen, helfen können, Dekonstruktionsprozesse nicht als Gefahr, sondern als Bereicherung des eigenen Glaubens und der Gemeinde zu verstehen. Erst, wenn ich die Persönlichkeit, Geschichte, (theologische) Position, den Lebensstil, die Autonomie, den Glauben und Lebensvollzug des anderen als wertvoll und bereichernd verstehe und mit Neugier herausfinde und prüfe, welche Punkte auch mein Leben positiv beeinflussen könnten und mich in Toleranz übe bei den Fragen, wo ich andere Antworten gefunden habe, erst dann glaube ich, können Irritationen, die im Gemeindealltag auftauchen, gemeinsam überwunden werden und Beziehungen in gegenseitiger Fürsorge und Annahme gestaltet werden. Gemeinde sollte ein sozialer Raum sein, indem jeder seine Fragen und Antworten frei äußern darf, ohne verurteilt oder gar ausgeschlossen zu werden. Ich vermute zwar, dass meine Vorstellung an dieser Stelle utopisch ist und dennoch will ich Mut machen, dass wir uns in Toleranz, gegenseitigem Verständnis und mit Neugier begegnen.
Ich wünsche euch eine gesegnete Woche.