Kanzel: In Freikirchen und in modernen Kirchenhäusern ein verbrannter Begriff, der mit religiöser Herrschaft und Bevormundung der Kirche assoziiert wird. Eigentlich meint es aber nur das Rednerpult, also der Ort von dem aus der Priester, Pfarrer:in oder Pastor:in seine/ihre Predigt hält. Ich persönlich bevorzuge eigentlich lieber die freie Bühne. In traditionellen Kirchengebäuden ist die Kanzel aber etwa auf 3 Meter Höhe oft mit einem Säulenartigen Treppenaufstieg unverkennbar als Ort der Predigt bekannt. Aber irgendwie scheint die Kanzel mehr und mehr aus der Zeit gefallen zu sein. Ich kenne wenige Pfarrer, die eine Kanzel tatsächlich noch nutzen, obwohl sie vorhanden wäre. Andreas Malessa schreibt über die Kanzel humorvoll als ein “an einer Säule geheftetes Möbelstück mit Treppchen, Gartentörchen, Leselämpchen und Dächlein. Ist dieser sog. “Kanzeldeckel” nach oben oval erhöht, kommen sich Pfarrer darin vor wie das Küken in einem aufgeschlagenen Ei. Gottesdienstbesucher ohne Respekt sprechen bisweilen auch vom “Schwalbennest” oder “Redebalkon”.”
Als mein Schwager in einer solchen Kirche mit Kanzel geheiratet hat, die bisweilen als “Eventkirche” genutzt wird, habe ich es mir nicht nehmen lassen, dem Schwalbennest ein Besuch abzustatten. Ich stelle mich also hinein und fühlte mich so gar nicht wie ein Küken im aufgeschlagenen Ei, sondern es geschah etwas ganz unerwartetes, was mir zuvor gar nicht so bewusst war. Der Kanzelbalkon war wie beschrieben ein Ort, welches man über eine Treppe, die hinter dem Gemäuer herging erreichen konnte. Sie hatte kein Dächlein, aber war eingelassen in einem rund-ovalen Mäuerchen. Den Blick nach vorne gerichtet testeten wir den Effekt, den die Kanzel als kleines Geheimnis in sich verbarg. Was unscheinbar aussah und äußerlich allenfalls den Effekt von Ehrfurcht vor dem Wort Gottes versprach, entpuppte sich als geniales Meisterwerk der Baukunst. Darüber habe ich zumindest noch nie nachgedacht, ergab aber schlagartig Sinn. Denn die Schallwellen der Leute, die unten im Kirchensaal waren und leise miteinander flüsterten, verfingen sich hinter mir in dem rund-ovalen Kanzelschiffchen, sodass sich die Lautstärke der sich überlagernden Flüstertönchen verstärkten. Genial, ich verstand alles, obwohl die Leute nur leise miteinander sprachen. Ebenso war auch meine Stimme für die Zuhörer im Raum deutlich lauter zu hören. Ich bin froh, dass wir heutzutage Mikrofone haben, die das für uns übernehmen. Aber in einer Zeit, wo es das nicht gab, haben sich die Leute schon was einfallen lassen.
Mir kommt ein Gedanke, der mich seit dem begleitet: Die Kanzel als Ort der Verkündigung ist auch ein Ort des Zuhörens. Beides gehört zusammen. Die Verkündigung der Frohen Botschaft des Evangeliums in den Saal hinein, aber auch das Lauschen der wichtigen Anliegen und der Alltagssorgen der Menschen, die da sind, die ja die Adressaten der Guten Nachricht sein sollen. Luther hat es ja mal so markant ausgedrückt: “Ihr müsst dem Volk aufs Maul schauen.” Also zuhören und über die Themen reden, die die Menschen wirklich interessiert. Ich mag es mal so verstehen: Wenn dem Alltag und den wichtigen Themen unseres Lebens unter dem “Kanzeldeckel” gelauscht wird, rutscht die Botschaft von der Kanzel auch in das Herz der Zuhörenden, denn es wandert von Herz zu Herz.
Ich wünsche euch eine gesegnete Woche und fröhliche und erholsame Herbstferien,
euer Christian